Geistlicher Impuls im Juni 2022 – erfolgreich, angeschlagen, gesegnet

Ich komme gerade von einem Gespräch mit einem, der Angst hat und es nicht weiß. Er ist gesund, hat Familie und Haus. Er hatte sich in seinem Beruf Kompetenzen erworben und Anerkennung. Trotzdem spürte er vor einiger Zeit: ‘es kann so nicht weiter gehen. Eine Neuorientierung ist nötig.’ Er fing ein Studium an und schloss alle Prüfungen mit Erfolg ab. Als ich ihn besuchte, stand er vor dem Abschlussexamen. Er konnte nicht mehr lernen und sich auf nichts mehr richtig konzentrieren. Er traute sich nichts mehr zu. Auch im Umgang mit den Menschen um ihn herum fühlte er sich lustlos und antriebsschwach, ja nicht einmal seinen Lieblingssport konnte er noch ausüben.

Er erzählt mir bei meinem Besuch davon und fragt, wie es mit ihm weitergehen kann. Während er mir seine Lage schildert, merke ich, dass er Angst hat. Ich sage ihm das und frage ihn: „Kannst du diese Angst beschreiben?“ Statt einer Antwort legt er sich eine Hand an die Kehle und atmet ganz tief aus. Es zischt wie wenn Dampf aus einem Kessel entweicht. Ich mache ihm bewusst, was ich sehe und wie ich ihn wahrnehme. Er hat nicht gemerkt, wie er sich körperlich geäußert hat. Ich ermutige ihn, diese Äußerung seines Körpers und sein Gefühl, nichts mehr leisten zu können, miteinander in Verbindung zu bringen. Dabei entdeckt er, dass er Angst hat; Angst vor Menschen, Angst, zu versagen, ja sogar Angst vor dem Leben. Wir sprechen über kleine Schritte des Vertrauens, mit denen er üben kann, neues Zutrauen zu seinen Möglichkeiten zu finden.

Von Mutlosigkeit zum Vertrauen ins Leben

Mit dieser Frage nehme ich Sie jetzt mit in die alte Geschichte von Jakob. Dieser ‘Erzvater’ aus dem Alten Testament hat Wandlungen erlebt, die ihn gezeichnet und geprägt haben. Ich wünsche innerlich dem Mann aus der geschilderten Begegnung eine solche Wandlung, wie Jakob sie erlebt hat. Das ist kein ‘frommer’ Wunsch, der nie in Erfüllung geht. Eine solche Wandlung ist die einzige Chance, froh und lebenstauglich zu werden. Wie kann das geschehen?

Ich unterhalte mich zunächst mit Jakob und befrage ihn, was er auf meine Frage antworten könnte. (Die ganze Geschichte steht in 1. Mose 32.)

Das Gespräch

H.: Jakob, besser nenne ich dich bei deinem neuen Namen: I S R A E L – so wurdest du nach jener Nacht genannt, in der du einen Kampf auf Leben und Tod erlebt hast – was ist es gewesen, das dich verwandelt hat?

J.: Das ist gar nicht so einfach zu beschreiben. Ich war auf dem Rückweg in die Heimat.

H.: Du warst auf dem Rückweg in das Land, aus dem du einmal Hals über Kopf aus Angst vor der Rache deines Bruders Esau abgehauen bist.

J.: Richtig. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Auf der einen Seite konnte ich nicht mehr da bleiben, wohin ich geflohen war. Ich musste und wollte zurück. Schließlich hatte ich ja ein Recht hier zu leben. Der Segen und die Verheißung meines Großvaters waren auf mich übergegangen. Andererseits wusste ich nicht, ob mein Bruder noch sauer auf mich war. Ich hatte ihn ja schließlich ganz schön übers Ohr gehauen – so nennt ihr das wohl heutzutage. Wie würde er auf mich zukommen? Würde er mich leben lassen? Würde er sich an mir rächen? Ich hatte eine Riesenangst.

Nun fragst du nach der Nacht mit dem Kampf. Das war merkwürdig. Den ganzen Tag hatte ich geschuftet. Einige Herden mit wertvollen Tieren und den entsprechenden Hirten habe ich über den Fluss geschafft und meinem Bruder als Geschenk entgegen geschickt. Erschöpft und zufrieden stand ich abends noch am Flussufer, hinter mir nur noch das Lager mit meinen Frauen und Kindern. Als ich mich umsah, warf die untergehende Sonne meinen Schatten lang auf die Erde. Ich fragte mich: warum bist du zurückgekommen? War es richtig? Meine Gedanken machten sich auf den Weg zurück in die Jugendzeit, dort drüben, jenseits des Flusses. Irgendwie clever war das ja schon gewesen dem Bruder das Erbe für eine Schale voll Linsensuppe abzuluchsen. Was ließ der sich auch von seinen Gefühlen so treiben! Ich habe immer meinem Verstand vertraut.

Immer? Nur einmal nicht, als ich mich in Rahel verliebte, Labans schöne Tochter. Da habe ich wohl das Herz regieren lassen statt des Verstandes. Blind war ich dadurch für Labans Machenschaften. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte ich die Schwester im Bett. Schöne Bescherung. Seitdem bin ich gewarnt. Ein Schattendasein, mehr darf man den Gefühlen nicht zugestehen. Ein heller Kopf ist das Entscheidende im Leben.

H.: Das klingt gut durchdacht und wohlüberlegt. Was hat dir denn solche Angst gemacht? Fühltest du dich deinem Bruder unterlegen? Wieso sprichst du vom Schatten der Vergangenheit?

J.: Dass ich so klar darüber reden kann, ist ein Ergebnis dieses Kampfes. Vorher haben mich immer Ängste und Skrupel beschlichen, wenn ich auch nur einen kleinen Augenblick an früher gedacht habe. Ich konnte kaum an meine Mutter und an die ganze Zeit denken ohne innere Probleme. Da habe ich es möglichst verdrängt und mich einfach nicht mehr damit beschäftigt. Heute meine ich manchmal, dass der wirtschaftliche Erfolg und meine rastlose Aktivität in Viehzucht und Handel auch damit zu tun hatten. Ich konnte mich gut damit von meinen inneren Problemen ablenken.

Ich weiß heute nicht mehr so richtig wie das an jenem Abend angefangen hat. In der Abendstille am Fluss grübelte ich und meinte auf einmal, dass da jemand sei. Ach, es war wohl nur mein Schatten, der länger geworden war, dachte ich zuerst.

Mein Schatten – wie ein Schatten lag die Vergangenheit, lag mein Bruder Esau auf meinem Glück. Er verfolgte mich überall hin. Fliehen konnte ich nicht vor ihm.

Irgendwie war es mir, als sei da jemand. Aber sooft ich mich auch umsah, ich konnte nichts sehen außer meinen eigenen Schatten. Ich versuchte zu lachen: mein Schatten wächst mir wohl über den Kopf. Blöder Schatten. Das Lachen wollte nicht recht gelingen. Noch nie habe ich mich so alleine gefühlt! Doch! Natürlich, als ich vor Esau geflohen bin. Damals war schon mal die Nacht über mich gekommen. Bei Beth – El. Haus Gottes habe ich den Ort damals genannt, wo ich davon geträumt hatte, der Himmel stünde mir offen. Dort war’s, wo ich meinen Pakt mit Gott geschlossen hatte: „Du sollst mein Gott sein, wenn Du mich sicher ins Land meiner Väter bringst und sicher wieder heim!“

H.: Du erzählst ja deine ganze Lebensgeschichte. Ich wollte doch nur von der Nacht mit dem Kampf und der Verwandlung erzählt bekommen. Wieso machst du es so lang und umständlich?

J.: Das geht nicht anders. Ich könnte sagen: „Gott hat mit mir oder ich habe mit Gott gekämpft.“ Nur, was würde dir das bedeuten? Du wolltest eine Spur finden für dein Gespräch mit dem ängstlichen Mann, eine Fährte, auf der Verwandlung geschehen kann. Das ist meine Entdeckung: Verwandlung geschieht nicht mal eben so im Vorübergehen. Verwandlung setzt einen bewussten Schritt auf den Weg hinein in meine eigene Geschichte und in mein Lebensthema voraus.Der Weg hinein ist der Weg hinaus’ – so sagst du es doch selbst häufig zu Menschen, die mit Lebensfragen in deine Beratung kommen.
Das habe ich gespürt in jener Nacht: ‘wenn ich Frieden finden will, – wenn ich heimfinden will, – wenn der Pakt mit Gott noch galt, dann muss ich mich meinem Schatten endlich stellen. Jetzt darf ich nicht noch einmal fliehen’.

Das sah ich mitten in der Dunkelheit.

Ich brachte kurz entschlossen die Familie und alle anderen, die noch im Lager waren auf das andere Ufer und kehrte allein zurück. Ich wollte mich stellen. Wie das gehen würde, wusste ich nicht. Auf einmal war da wirklich einer. Das Ringen begann. Er wollte mich niederzwingen. Das ist ihm aber nicht geglückt. Einen festen Schlag hat er mir versetzt, hierhin auf das Hüftgelenk. Ich habe jetzt noch Schmerzen. Du siehst ja auch, dass ich hinke. Das habe ich aus jener Nacht mitgebracht. Die Hüfte hat er mir ausgerenkt.

H.: Wer war das denn nun? Das wird wohl einer aus den Bergen gewesen sein. Da treibt sich ja so mancher herum des Nachts.

J.: Deute es wie du willst. Ich habe eine männliche Gestalt in meinen Armen gespürt und mit ihr gerungen. Er wollte weg und konnte nicht, weil ich ihn nicht losgelassen habe. Es war fürchterlich. Ich wusste nicht, wie, und ich wusste nicht, warum. Aber ich habe mit allen Kräften diesen Mann festgehalten und ihn angebrüllt: „Ich lasse dich nicht, ehe du mich gesegnet hast!“ Ich spürte, mein Leben würde nie mehr ganz, wenn ich den Fremden gehen ließe.

Später dachte ich: ‘eigentlich war es Wahnsinn, ihn aufzuhalten, den unheimlichen Fremden. Aber auf seltsame Art erschien er mir auch wieder bekannt. Esau’s Gesicht? Oder Gottes Gesicht, wie ich es in Beth – El im Traum gesehen hatte? Das nächtliche Gesicht, so fassbar und unfassbar zugleich wie die ganze Gestalt. War es vielleicht doch wieder ein Traum, die ganze grauenvolle Nacht, der mörderische Kampf? Aber da war und da ist ja der Schmerz. Den träume ich ganz gewiss nicht.
‘Lass mich gehen’, sagte er, ‘das Morgenrot kommt’. Ich lasse dich nicht, ohne dass du mich segnest. Da fragte er nach meinem Namen. Ich sagte ihm: ‘Jakob’. Er antwortete – später, viel später begriff ich erst, dass das der Segen war: „Du sollst nicht länger Jakob heißen, sondern ISRAEL – der Mann, der gekämpft hat mit Gott, mit den Menschen und mit sich selbst. Du hast gekämpft und gewonnen!“ Ich fragte ihn auch nach seinem Namen. Statt einer Antwort segnete er mich und verschwand.

Wie lange ich da gelegen habe, weiß ich nicht mehr. Als es hell wurde, stand ich auf und spürte diesen stechenden Schmerz in der Hüfte. So ein Mist, dachte ich. Das hast du jetzt davon. Später begriff ich: das war auch der Segen! Der Schmerz gehört offenbar dazu.
Wie ich es mir angewöhnt hatte, gab ich auch diesem Platz für mich einen Namen. Ich nannte den Platz: PNUEL – Angesicht Gottes. Denn was du auch immer denken und deuten magst – ich bringe diese Nacht und meine Verwandlung mit Gott in Verbindung. Das war der Bericht von jener Nacht. Weißt du jetzt mehr für deine Frage?

H.: Ich beginne zu ahnen. Verwandlung im Inneren eines Menschen ist offenbar ein Geheimnis, das sich vollzieht. Später erst kann der Kopf das Erlebte sortieren und halbwegs verstehen. Wir ‘Macher – Menschen’ wollen oft Rezepte und praktizierbare Tipps, um schnell helfen zu können. Wir übersehen dabei, dass innere Heilung ein Prozess ist, der die ganze Person fordert. Kampf und Risiko dürfen nicht umgangen werden. Sehr beeindruckt hat mich deine Schilderung, wo du gesagt hast, dass du jetzt nicht wieder fliehen darfst, wenn du weiterleben willst. Ganz stark war auch deine Erinnerung an den Pakt mit Gott, dessen Gültigkeit du in diesem Kampf angefragt und auf die Probe gestellt hast.

J.: Das ist alle eine sehr persönliche Angelegenheit, über die ich nicht gerne in großer Runde spreche. Ich bin nämlich kein ‘Glaubensheld’. Auch mein weiteres Leben war von Kampf und Risiko geprägt. Ich habe auch weiter viele Fehler gemacht, vor allem in der Erziehung meiner Söhne. Aber eins hat sich durchgehalten, der Pakt mit Gott!

H.: Sag doch noch kurz etwas dazu, wie es am Morgen nach der Kampf – Nacht weitergegangen ist. Hast du da schon Auswirkungen der Verwandlung gespürt?

J.: Ja, und ob. Das heißt, ich habe es am wenigsten selber gemerkt. Rahel und die anderen haben mich hinterher zu Rede gestellt. Sie waren total überrascht, wie ruhig, großherzig und gelassen ich meinem Bruder begegnen konnte. Es hat eine offene Begegnung mit Umarmung und Bruderkuss gegeben. Er war mir zugetan und wollte meine Geschenke gar nicht annehmen.

Ich wusste selbst nicht so richtig, woher meine Worte dann kamen. Ich sah ihn unschlüssig mich und meine Herden ansehen. Da sagte ich – zur Überraschung aller in meinem Clan: „Was ich dir bringe, ist etwas von Gottes Segen. Gott hat mir’s gegeben, genug von allem. Ich bin reich auch ohne das. Nimm doch den Segen von mir.“

Ist das noch Jakob, den wir kennen?’, so fragten sich die Meinen kopfschüttelnd. ‘Gibt ohne Not seinen Reichtum. Er hatte doch alle Kunst gebraucht, um soviel zu erringen und hierher zu bringen’. Mir war es einerlei. Vollständig erklären konnte ich mein Verhalten nie. Die Erfahrung jener Nacht habe ich Rahel erzählt, und dass ich mich im Blick auf meinen Bruder so reich fühlte wie nie zuvor. Ob sie mich verstanden hat?

H.: Ich danke dir für deine Offenheit und das Risiko, von mir und meinem ängstlichen Gesprächspartner missverstanden zu werden. Dem werde ich – mit deiner Erlaubnis – die Aufzeichnung dieses Gesprächs zukommen lassen. Ich werde dieses Gespräch auch anderen zu lesen geben, die auf eine Spur zu ihrer eigenen Wandlung kommen wollen. In ihrem Namen danke ich dir herzlich für das Gespräch.

 

Liebe Leserinnen und Leser dieses – fiktiven – Gesprächs: ich überlasse Ihnen die Antwort auf die Frage: was hat diese Erfahrung der inneren Heilung und des göttlichen Segens mit meinem Leben und seinem ‚Erfolg‘ zu tun?

Hermann Kotthaus