Paradox ist der Frühling

Ein Sonntag Anfang März.

Der Morgennebel hat sich verzogen. Erste Frühlingsboten: Krokusse, Osterglocken.

Die Sonne scheint.

Ein früher Spaziergang vor dem Gottesdienst wird mir gut tun. Schnell die wärmende Jacke angezogen – noch hat die Sonne nicht ihre volle Strahlkraft erreicht – und los.

Es ist noch früh. Kaum jemand ist unterwegs. Nur ein paar Menschen, die ihre Hunde ausführen.

„Guten Morgen“, tönt es mir entgegen.

„Guten Morgen.“

„Herrliches Wetter heute!“

„Ja, sehr schön.“

„Da macht das Leben doch wieder Spaß. Schönen Sonntag noch.“

„Danke. Ihnen auch.“

Wir nicken uns kurz zu, und weiter geht’s.

Das war die Nachbarin, die ihren Mischling ausführt. Putziges Tier. Gut, dass sein Frauchen nicht stehengeblieben ist. Mir ist noch nicht nach Reden.

Ich will eigentlich nur – ja, was denn?

Die Natur genießen? Die Sonne spüren? Fühlen, dass es Frühling wird? Dass es aufwärts geht?

Dass das Leben wieder Spaß macht, wie die Nachbarin gerade gesagt hat?

 

Der Kopf voller Bilder – Zerstörung und Widerspruch

 

Auf jeden Fall will ich wegkommen von den Gedanken und Bildern, die in diesen Tagen in meinem Kopf sind. Eigentlich stetig:

Bilder aus dem Gazastreifen, aus der Ukraine. Bilder, die mich jedes Mal wieder erschrecken und mir die Zerbrechlichkeit unserer heilen Welt vor Augen führen.

Irrsinn, den Menschen Menschen antun. Unsägliche Brutalität, Zerstörung, Verwüstung.

So viel Elend, Leid, Not und Tod.

 

Die Sonne strahlt vom Himmel.

 

Andere Bilder haben sich in den Nachrichten in der letzten Zeit dazu gesellt.

Bilder von  Menschen, die hier in Deutschland auf die Straße gehen. Die öffentlich zeigen, dass Hass und Menschenverachtung hier keinen Platz haben. Dass Parolen, die Menschen ausgrenzen wollen und stigmatisieren, nicht unwidersprochen bleiben.

Das sind Bilder, die Mut machen. Wenn man mitten in der Menge steht, fühlt sich das gut an. Hoffnungszeichen.

Und trotzdem der Zweifel: Ist das genug?

Tun wir genug, um den Anfängen zu wehren?

 

Die Sonne scheint: mal unerbittlich, mal Kraft spendend

 

Die Sonne scheint nicht nur hier. Sie scheint auch in Potsdam, in Moskau, in Kiew, in Gaza-Stadt, in Jerusalem. Vielleicht nicht am heutigen Tag, aber doch immer wieder.

„Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ , heißt es im Matthäus-Evangelium (5,45).

 

Die Sonne strahlt vom Himmel.

 

Die Natur erwacht überall. Wie in jedem Jahr. Bei uns in Mitteleuropa / Deutschland entfaltet sie ihre lebenspendende Kraft. An anderen Orten der Erde bringt sie Dürre, Trockenheit, Hunger und Durst.

Klimawandel. Von Menschen gemacht.

Paradox, dieser Frühling, dieser Sonnenschein: Einerseits sehe ich, wie verwundbar, wie zerbrechlich das Leben ist. Andererseits drängt die Natur, drängt das Leben nach Licht. Nach Heilung. Nach Neu-Werden. Nach Frieden.

Paradox, dass wir hier im Frieden die Sonne genießen, wenn anderswo die Bomben fallen. Paradox, wenn wir hier die Sonne genießen und sie woanders so unerbittlich scheint, dass kein Wasser mehr zu haben ist.

 

Einer geht mit durch die Paradoxie

 

In kaum einer anderen Zeit wird mir dieses Paradoxe so deutlich wie im Frühling, in der Passionszeit. Wenn wir auf Ostern zugehen. Wenn wir in Gedanken die Leidenszeit Christi mitgehen. Bis nach Golgatha. Bis ans Kreuz.

Ich bin mir sicher: Genauso geht er, Jesus, auch mit uns durch unsere Erfahrungen von Dunkelheit und Leid, von Widersprüchlichkeit und Paradoxie.

Aber eben auch darüber hinaus.

Bis zum Ostermorgen. Und immer weiter.

Woher kommt die Kraft zum Auf- und Einstehen?

 

Dietrich Bonhoeffer hat es so ausgedrückt: „Die Auferstehung Christi macht offenbar, dass wir Zukunft haben. Leiden und Tod verlieren dadurch nichts von Ihrer Bitterkeit, aber sie erscheinen in einem neuen Licht.“

Ja, ich will Sonne tanken. Ja, ich will dem Grau entfliehen. Ja, ich sehne mich nach einer besseren Zeit, nach einer gerechteren Welt.

Ich darf die Sonne genießen. Ich darf mich an ihr erfreuen. Aus ihrer Wärme wird mir  neue Kraft zuwachsen. Kraft, um aufzustehen und einzustehen, wenn es nötig ist.

Trotz aller Bedrängnisse. Trotz aller Probleme. Trotz Not und Elend. Es gibt Hoffnung.

Wie hat es die Nachbarin gesagt: „Da macht das Leben doch wieder Spaß.“

Ich wünsche Ihnen, liebe Lesende, eine besinnliche, Kraft schenkende Passionszeit und ein fröhliches, gesegnetes Osterfest.

Christ ist erstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja.

 

Helga Siemens-Weibring, *1958, wohnt in Essen, ist Beauftragte für Sozialpolitik und Quartiersarbeit bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und Mitglied im Beirat des Hauses der Stille.