Verloren oder genug? Funde in einer Auszeit

„Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?“  Diese Frage steht schon in der Bibel. Jesus hat sie gestellt. Drei Jahre lang war er mit seinen Jüngerinnen und Jüngern unterwegs von Ort zu Ort. Auf diesen Wegen haben sie ihn beobachtet und kennengelernt. Er hat ihnen viel von dem erzählt, was ihn innerlich bewegte. Aber sie haben auch miterlebt, wie er Kranke heilt und Traurige tröstet. Wie er seinen Kopf durchsetzt, wenn er glaubt, dass es nötig ist. Und wie er mit denen streitet, die glauben, alles besser zu wissen über Gott. Wenn ihm alles zuviel wurde und er erschöpft war, hat er sich zurückgezogen an einen einsamen Ort. Auch das konnten seine Freundinnen und Freunde von ihm lernen. Sie spürten, dass eine große Kraft von ihm ausgeht – aber dass er diese Kraft auch pflegen muss.

Sich selbst wieder spüren – oft laufen da erstmal Tränen

Wer Jesus verstehen will, muss mit ihm gehen. Damals haben das viele begriffen und sich mit ihm auf den Weg gemacht. Offenbar hatten auch schon vor so langer Zeit viele Menschen das Gefühl, „sich selbst zu verlieren“. Das berührt mich sehr. Denn es scheint nicht nur ein modernes Phänomen zu sein. Ich höre das öfter, wenn Menschen zu Exerzitien oder in die Geistliche Begleitung kommen. Sie sagen dann so etwas wie: „Ich glaube, ich habe mich selbst verloren“, oft laufen dann schon die Tränen. Wie sich das anfühlt, sich selbst zu verlieren? Sie spüren sich nicht mehr richtig. Funktionieren halt gerade noch. Wissen nicht mehr, was sie wirklich wollen, was ihnen gut tut, was sie brauchen. Deshalb sind sie zu einer Auszeit gekommen. Sie möchten sich wieder finden. Allein das Angebot, darüber sprechen zu dürfen: Wie gut das tut! Zuwendung hilft. Und was die meisten dann als erstes wieder spüren: dass sie traurig sind, müde und voller Schmerz. Oder dass ihnen etwas fehlt, obwohl sie doch äußerlich alles haben.

Die Not kann so groß sein, dass ein paar Tage Auszeit nicht ausreichen. Dann braucht es therapeutische Hilfe, vielleicht auch eine Reha. Oft aber können mehrere Tage Stille und Einkehr schon viel bewirken. Viele Gäste vom „Haus der Stille“ wissen das. Sie lieben die liebevolle Gestaltung der Häuser, den wunderschönen Garten, die Zeit für sich selbst. Welch Segen sind die freundlichen Menschen in Küche und Hauswirtschaft, in Verwaltung und Leitung des Hauses, die Anleiterinnen und Anleiter von Kursen. Hier dürfen erschöpfte oder suchende Menschen ausruhen und Neues lernen. Wieder mehr bei sich selbst ankommen. Hier spüren sie wieder, dass Gott sie anschaut. So dass sie wieder fragen können: Was will mein Gott für mich? Wie kann ich wieder spüren, dass er mich heil und ganz will?

Wenn Hartes weich wird

In der Stille, im Gespräch mit anderen, in der Begegnung mit biblischen Geschichten und Worten und im Gebet kann sich manches lösen. Vielleicht kann jemand endlich mal wieder weinen. Es ist wunderbar, wenn auf einmal Verhärtungen wieder weich werden. Auch wenn das zunächst vielleicht weh tut. Und die Gäste dürfen (wieder) entdecken: Jesus will mein Freund sein. Ich bin gemeint! Er geht mit mir durch mein Leben. Er möchte mich heilen. Er ermuntert mich, mehr in die Tiefe zu schauen. Äußerliches ist nicht so wichtig. Mit Jesus an meiner Seite bin ich „genug“. Da muss ich nicht noch die halbe Welt gewinnen. Er hilft mir, mich immer wieder zu finden.

Und wenn ich mich wieder gefunden habe – könnte ich einen liebenswerten Menschen entdecken!

Martina Patenge, *1965, Pastoralreferentin i.R. im Bistum Mainz, Geistliche Begleiterin, Exerzitienleiterin, Gestaltberaterin, ist Mitglied des Beirats des Hauses der Stille