Was nutzt Besinnung und Verzicht, wenn alles um mich in Trümmer bricht?

Das Leben macht es uns zurzeit nicht leicht. Meine Freundin war richtig sauer, als wir vor ein paar Tagen über die Fastenzeit ins Gespräch kamen. „Dazu habe ich in diesem Jahr überhaupt keine Lust – bei all dem Unheil und den Katastrophen, die uns umgeben.“

Gerade erst sind die tollen Tage vorbei, eine Zeit des unbeschwerten Feierns inmitten der schlechten Nachrichten, die uns dauernd erreichen. Kaum hat die Seele ein bisschen Erholung gefunden, ein bisschen Zurückkehr zur Normalität erfahren – da soll man schon wieder bewusst Verzicht üben. Das Motto der Fasten-Kampagne der Evangelischen Kirche ist zwar nicht trübsinnig: „Sieben Wochen ohne Verzagtheit“ – aber in meiner Bekanntschaft sind zum Beispiel aktuell so viele mit Corona infiziert wie noch nie, obwohl die allgemeinen Schutzmaßnahmen jetzt fast komplett aufgehoben wurden.

Der Krieg in der Ukraine tobt weiter und weiter. Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat uns die Vulnerabilität unserer Erde und die damit verbundenen Gefahren deutlich gemacht. Im Mittelmeer ertrinken immer noch fast täglich Menschen auf der Flucht. Die Klimaverschiebungen überall führen zu Extremwetterlagen, die Angst machen. Die wirtschaftliche Lage lässt die Grenzen zwischen Arm und Reich noch deutlicher hervortreten. Immer mehr Menschen auch in unserem wohlhabenden Land geraten in finanzielle Nöte. In meiner Arbeit in der Diakonie erlebe ich, dass die anwaltliche Vertretung aller, die nicht allein für sich selbst eintreten können, wichtiger ist denn je.

In manchen stillen Momenten, in denen ich alles an mich herankommen lasse, denke ich: Wohin soll das noch führen? Was kann ich noch tun? Was nützt denn da Besinnung und Verzicht, wenn alles um dich in Trümmer bricht?

Mit Glaubenskraft: Kraft schöpfen für das, was ich tun kann

Mir kommt mein altes Poesiealbum in den Sinn. Ich hatte eines in der Schulzeit. Sie vielleicht auch?

Eine Lehrerin hat hineingeschrieben:

Es mag sein, dass alles fällt,
dass die Burgen dieser Welt
um Dich her in Trümmer brechen.

Halte Du den Glauben fest,
dass Dich Gott nicht fallen lässt:
Er hält sein Versprechen.

Der Lyriker Rudolf Alexander Schröder, der der Bekennenden Kirche nahestand, schrieb dieses Gedicht 1936. Es findet sich auch mit vier weiteren Strophen als Lied in unserem Evangelischen Gesangbuch.

So viel Glaubenskraft in einer so schrecklichen Zeit! Hoffnung und Zuversicht sprechen aus den Worten. Das Vertrauen, dass Gott uns alle immerzu begleitet und auch in den trübsten Zeiten nicht allein lässt: „Er hält sein Versprechen.“ Diese Gedanken kann ich auch heute aufnehmen.

Um die Begleitung, um Gottes Nähe zu spüren, muss ich mir die Zeit nehmen, ihn wahrzunehmen in all dem Trubel, der Geschäftigkeit, den Problemen im Alltag. Zeit, damit ich wieder Kraft schöpfen kann für das, was kommt, und für das, was ich dann tun kann mit dieser neuen Kraft.

In der Fastenzeit, mit Motto oder ohne, und zu allen anderen Zeiten, allein oder mit anderen. Mit Kerze oder Klangschale oder ohne. Mit welchem Ritual auch immer – dann, wenn ich aus der Tretmühle herauskommen will, darf ich mir Zeit für mich und für Gott nehmen.

Wie heil werden in einer unheilvollen Welt?

Ich lausche: Was braucht meine Seele? Was sagt Gott mir? Wie kann ich heil werden in einer unheilvollen Welt? Was kann ich zum Heilwerden der Welt beitragen?

Ich nehme mir die Ruhe, darauf zu hören, was Gott mir sagt – in welche Richtung mein Leben mit ihm weitergehen soll.

Ich mache etwas anders als sonst. Halte Stille. Denke nach. Trete mit Gott neu in Kontakt. Ich erneuere mein Gottvertrauen und stärke den eigenen Mut.

Gottvertrauen heißt nicht, allen Entwicklungen, politisch, persönlich oder gesellschaftlich, ihren Lauf zu lassen. Es bedeutet, dort, wo es notwendig ist, für die Welt, für Gottes Schöpfung, für Mensch, Tier und Umwelt, zu streiten. Im Vertrauen darauf, dass er sein Versprechen hält.

„Es mag sein, dass alles fällt…“  Festgeschrieben ist es also nicht, dass alles fällt.  Sondern es gibt Hoffnung.

Diese Hoffnung ist ein guter Grund für eine Fastenzeit. Ich lasse Gewohnheiten aus, mache etwas bewusst anders, finde Zeit für Stille. So stärke ich meine Hoffnung.

 

Helga Siemens-Weibring, *1958, wohnt in Essen, ist Beauftragte für Sozialpolitik und Quartiersarbeit bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und Mitglied im Beirat des Hauses der Stille.