Wie Klagen und Stille verschmelzen …

Eine Szene aus diesem Sommer: Wir laufen als Seminargruppe einen Feldweg entlang. Am Ende wartet der See. Zuerst machen wir jedoch eine Übung zu Resilienz: zu Trauer und Trost. Wir sprechen Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast Du mich verlassen?“ Es ist ein Versuch zu verstehen, wie dieser Text ein Hoffnungstext sein kann, indem wir nicht rückwärtsgewandt „Warum?“ fragen, sondern nach vorne ausgerichtet „Wozu?“.

„Mein Gott, mein Gott, wozu hast Du mich verlassen?“ Die Betende des Psalms fühlt sich Gott fern. Wieder und wieder beklagt sie ihre Einsamkeit und Verlassenheit; erzählt, woran sie leidet: Sie ist von Feinden bedroht, sterbenskrank, und vor allen Dingen ist sie allein. Sie klagt, und sie hört nicht auf zu klagen: Auch nachdem sie ihr Vertrauen ausgesprochen hat, nachdem sie sich selbst Hoffnung zuspricht, bleibt sie bei ihrer Klage. Sie bleibt bei ihrer Klage, weil es ihr einziger Weg ist, noch zu hoffen – sich etwas Anderes vorzustellen.

Klagen drückt Hoffnung aus

Die Klage lässt innehalten. Wenn ich klage, versinke ich nicht (mehr) vollständig in meiner beklagenswerten Situation. Ich klage und ich bin nicht identisch mit meinem Schmerz, meiner Trauer, meinem Verlust. Und ich halte es aus zu klagen: Ich blende das zu Beklagende nicht aus und lasse meine Gefühle zu, in allem Chaos und aller verwirrenden Gleichzeitigkeit.

So wie die Betende in Psalm 22: Ich bin verlassen und ich vertraue auf Dich, und ich bin ein Wurm und ich hoffe auf Dich, und Du bist ferne und Du hast mich erhört. Ich erfahre in der Krise all dies dynamisch: manchmal abwechselnd und manchmal so ineinander verwoben, dass ich vielleicht gar nicht weiß, was ich empfinde. Ich hoffe und ich ringe mit dem, was mich zu zerstören droht.

Gras am Wegrand: Teil meines Psalms!

Während wir den Feldweg entlang laufen, sprechen wir den Psalm in kurzen Abschnitten: Klage. Vertrauen. Klage. Hoffnung. Klage. Bitte. Nach jedem Abschnitt laufen wir für eine Minute schweigend weiter. Irgendwann wird aus dem Schweigen eine Stille. Wir laufen in Stille weiter: Und das Gras am Wegrand wird ein Teil des Psalms, die Sonnenstrahlen über den Bergen und die Katze am Flusslauf, die uns noch einige Verse weiter folgt. Am Ende der Übung sagt eine Teilnehmerin: „Ich dachte, dass die Stille den Psalm unterbrechen würde. Aber eigentlich hat der Psalm die Stille unterbrochen.“

Die Stille kann einen Raum bieten, in dem geklagt werden kann. Raum, in dem eine Klage, die ich gehört habe, zu meiner Klage wird. Wir teilen die Klage: Die Verlassenheit der Betenden spiegelt meine Einsamkeit, und ihre trotzige Klage zeigt mir eine Haltung für meine Traurigkeit, in der ich die Hoffnung nicht aufgebe. Ich bin still und ich klage, ringe mit der Hoffnung und mit dem Schmerz.

Raum für Klage finde ich nicht nur auf den Feldwegen, sondern auch im Herbst, an den Regentagen, in Abschiedsphasen und an den stillen Festtagen im Kirchenjahr. Momente und Tage, an denen wir klagen und eine Kerze anzünden, schaffen Raum für unsere Hoffnung.

Dr. Katharina Opalka, * 1985, ist Systematische Theologin, forscht an der Universität Bonn zu Resilienz und Spiritualität und ist Mitglied im Beirat des Hauses der Stille.