Die Stille ist die Quelle der Fülle – 10/21

In der Begleitung von Gästen und Gruppen in unserem Haus ist es für mich zur Erfahrung geworden: „Die Stille ist die Quelle der Fülle.“ Oft überraschen mich Gäste in Begleitgesprächen, wenn sie berichten, welche Gedanken, Ideen und neue Einsichten in der Stille in ihnen aufgestiegen sind. Die Stille macht Unerwartetes möglich, sie ist ein Raum der Kreativität. Neues entsteht, einfach so.

Ein Leben aus der Stille – Hanns-Josef Ortheil

Besonders beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang das Beispiel des Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil, der in seinem Autoren-Blog fast täglich seine persönlichen Inspirationen weitergibt. Für ihn haben die Stille und das Schweigen schon ganz früh in seiner Kindheit einen großen Raum eingenommen. Seine durch den Krieg und den Verlust von vier Kindern traumatisierte Mutter ist in eine stumme Welt eingetaucht. Auch Geräusche, die von außen diese Welt störten, wurden in der Wohnung so weit wie möglich ausgeschlossen. Als kleines Kind ist Ortheil in emotionaler Verbindung zu seiner Mutter ebenfalls verstummt bzw. er hat aufgehört, überhaupt reden zu lernen. Dieses aufgedrängte Schweigen in seiner Kindheit hatte krankhafte Züge. Es war der einfühlsamen Intervention des Vaters zu verdanken und einer glücklichen Fügung, dass das Kind dann doch in die Welt der Worte und Sprache fand. Beeindruckend ist, welche kreative Kraft im weiteren Verlauf des Lebens aus dieser stillen Kindheit hervorgegangen ist. In seinem Buch „Die Erfindung des Lebens“ beschreibt der Autor ausführlich diese Entwicklung. Sein literarisches Werk gibt auch an vielen anderen Stellen Auskunft, wie wichtig ihm die Stille nach wie vor ist. So gehören stille Zeiten und sein begeistertes Schreiben eng zusammen.

70 Jahre – 70 Werke

Anfang November diesen Jahres feiert er seinen 70. Geburtstag und fast zeitgleich erscheint sein 70. Werk, ein Roman mit dem Titel „Ombra“. Es geht darin um den Schatten, den eine sehr schwere Krankheit über Ortheils Leben geworfen und welche Verwandlung dieses einschneidende Erlebnis in ihm bewirkt hat.
Es ist nicht nur die Fülle seiner Werke, die mich staunen lässt. Es ist auch die Verbindung zu einer größeren Kraft, die in seinem ganzen Werk durchscheint. Wir nennen sie in unseren Worten „Gott“ oder auch die „Kraft des Heiligen Geistes“. Es ist eine unerschöpfliche Quelle der Ideen und Einsichten. Hanns-Josef Ortheil fasst diese meisterhaft in Worte und Schrift.

Fülle aus dem Schatten

Sein Beispiel zeigt mir, dass auch aus Leidenserfahrungen und Einschränkungen eine große kreative Kraft entspringen kann. Jeder Mensch hat eine je eigene Weise sich in der Stille mit dieser Quelle zu verbinden. Das Leben lehrt uns, mit welchem Mittel wir aus ihrer Fülle schöpfen können.

Denn ich bin davon überzeugt: Gott hält die Fülle für uns alle bereit.

Irene Hildenhagen