Rote Linien?

Von der Güte Gottes erzählen!

Ich höre viel von „roten Linien“, die unsere Gesellschaft schützen sollen. Sätze, die Erschrecken ausdrücken, und Menschen, die politische Korrektheit und soziales Verhalten einfordern. Da möchte ich von der Güte Gottes erzählen. Damit sie nicht aus meinem Herzen verschwindet. Damit sie wahrnehmbar bleibt.

So lade ich Dich zu einer Begegnung ein, einem Zusammensitzen um einen Tisch.

Ich lade auch den ein, der morgens schon keine Zeit mehr hat, in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Und die alte Frau, die ihre eigene Tochter fragt: „Kennen wir uns? Wer sind Sie denn?“ Und die beiden, die auf der Straße stehen bleiben und deren Blick sich ineinander versenkt, bis sie die Augen schließen. Und dieselben beiden, ein Jahrzehnt später, kurz nachdem sie sich getrennt haben und die sich um die Kinder streiten. Und die Gruppe grölender junger Leute, die schon jetzt zu viel getrunken haben und die sich darin gefallen, aufzufallen und Schrecken zu verbreiten. Und den jungen Mann, der ein Messer mit sich trug und einen Polizisten erstach. Und das Mädchen, das Angst vor der Zukunft hat und davon träumt, Popstar zu werden.

Ich möchte von der Güte Gottes erzählen.

Ich sehe einen großen Küchentisch. Daran sitzen alle, die der Einladung gefolgt sind. Ich sehe auch Gott in der Runde. Ich sehe ihn als den Menschensohn unter den Menschen. Wasser und Wein stehen auf dem Tisch und Brot und ein Buch: Das Geschichtenbuch der großen Güte Gottes.

Ob wirklich alle Eingeladenen am Tisch sind?
Oder zumindest in der Nähe bleiben?

Wo bist Du?

Niemand sagt etwas. Blicke gehen in die Runde. Ängstlich, verständnislos, verschlossen, neugierig, niedergeschlagen, abwartend. Immer wieder fallen die Blicke auf das Buch und verweilen bei Brot und Wasser und Wein.

Ob es hier etwas zu essen gibt?
Ob man hier den Durst stillen kann?

Der Menschensohn, der an Gott erinnert, schaut vom einen zum anderen, zugewandt, offen, freundlich. Er wartet ab, bis sein Blick erwidert wird. Unmerklich kommt ein Lächeln dazu, eine Augenbraue hebt sich, manchmal verdunkelt Trauer die Augen, einmal zeigt er seine offenen Hände. Die Blicke der am Tisch Sitzenden verändern sich. Auch die Haltungen. Als ob sie sich einfinden würden.

Gott lässt sich nicht spotten, sagt der Menschensohn irgendwann vielleicht. Oder: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und nimmt Schaden an seiner Seele? Oder: Willst du heil werden, in Frieden kommen?

Ich möchte Dir von dieser Güte Gottes erzählen.

Von dem, der in seiner Person Wahrheit und Güte verkörpert und das Leben zum Klingen bringt und sieht, was geworden ist, und zugewandt bleibt.

Von dem, der Menschen unterbricht und es ihnen möglich macht, innezuhalten – der Menschen erkennen lässt, wie es um sie steht. Der weiß: Die Liebe ist in jedem angelegt, auch wenn sie verdunkelt ist.

Ich möchte von der Güte Gottes erzählen…

… und in der Tischrunde sehe ich, die Güte ist schon da. Sie zwingt niemanden, an diesen Tisch zu kommen. Sie weist niemanden ab. Sie hat Augen für die, die da sind. Sie hat für jeden den Satz, die Geschichte, das Bild aus dem großen Geschichtenbuch der Güte Gottes, so, dass es sie und ihn anspricht, tröstet, dem Unsagbaren Worte verleiht und Umkehr möglich macht.

Ich möchte von der Güte Gottes erzählen.

Ja, warum? Weil es mich dorthin zieht und weil für mich nur Güte Hoffnung macht, dass Not und Wut, Provokation und Hilflosigkeit, Angst und Abwehr sich wandeln können.

Dass das Leben neu wird.

Weil Güte für mich Licht ist, ohne das ich nicht leben kann. Weil ich auch nicht leben kann ohne einen Ort, der Geborgenheit gibt und Menschen die Angst nimmt und sie neu zum Klingen bringt. So ist mein Gebet am Abend und am Morgen:

Die ganze Welt ist voll deiner Güte, Gott!
Lass mich deine Güte sehen,
so dass sie in meinem Leben zum Klingen kommt. Amen.

Ulrike Stürmlinger, * 1961, Pfarrerin i.R., Geistliche Begleiterin, wohnt in Kempen und ist Kursleiterin und Mitglied des Beirates im Haus der Stille